Adalbert Stifter als Pädagoge und Therapeut

Die pädagogische Grundeinstellung Stifters in seinem "Sanften Gesetz" läßt sich von seinem künstlerischen Schaffen kaum oder überhaupt nicht trennen.
Das langsame Werden und Reifen müßte auch den Menschen das 20. Jahrhunderts bilden können, es durchzieht als All-Liebe im Sinne Spinozas die belebte und unbelebte Natur.

Kinder werden von Eltern oder Erziehern herangebildet, umgekehrt erfahren auch Erwachsene durch Kinder einen Reifungsprozess, wie in "Katzensilber" das fremde Mädchen, eine Art Naturgeist, oder im "Waldbrunnen", wo ein Zigeunermädchen wilde ekstatische Lyrik von sich gibt, – eine Begabung, die vom Dorfschullehrer nicht erkannt wird (!).
Der hält sie für nicht bildbar.
Selbst das Mädchen mit dem Wasserkopf in "Turmalin" hört auf die Querflöte des Vaters, ein Instrument des Todes, um ihre Einsamkeit wie überhaupt die Einsamkeit des Menschen sublimiert auszudrücken.
Die beiden Kinder in "Bergkristall" erziehen einander nach dem Vorbild der Eltern und Großeltern. Der Knabe Konrad verhindert durch sein überlegenes und ruhiges Gebaren, dass Sanna in Panik gerät und somit beide in Gefahr bringen könnte.
Autosuggestiv wiederholt Sanna immer wieder voll Vertrauen "ja, Konrad!".
Eine solche Geschwisterliebe ist beispiellos und nur in der Antigone von Sophokles gesteigert.

Dass ein solch erfahrener Pädagoge wie Adalbert Stifter kinderlos blieb, ist eine Tücke des Geschicks. Im "Waldbrunnen" wird gezeigt, wie gelernt werden soll!

Der Großvater ging mit seinen Enkelkindern in den Wald, sie gingen den Waldrand entlang, eine Anhöhe hinauf, sie gingen weiter, gingen zum Waldbrunnen, u. s. w.
Im Gehen, im Wandern nämlich eröffnen sich neue Räume, ein neuer Horizont.

Völlig angstfrei soll diese Erziehung sein, ebenso wie Weizen reift, langsam, mählich und intensiv. Und es gibt keinen besseren Lehrmeister als den Großvater oder die Großmutter; die Eltern müssen selbst noch erzogen werden, so lange dauert eine menschliche Entwicklung.

Nach den rhythmischen Gesetzen eines Menuetts kommen zwei Liebende zusammen im "Frommen Spruch", wo sich Cousin und Cousine zunächst in Onkel und Tante verlieben, weil sie sich ihre Leidenschaft nicht eingestehen wollen.
Rezepte also auch für Liebende wie im Nachsommer hat der unglückliche Adalbert Stifter parat, und eine große Glut und Liebe äußert sich zunächst in Ablehnung wie im "Kuß von Sentze".
Nach Dithas Tod bleibt für Abdia nur mehr Leere, er ist noch ganz ein Geschöpf des Alten Testamentes, ein Jude, der keinen Trost in der Natur oder nur wenig - finden kann.
In "Pechbrenner" schlägt die Mutter ihren Sohn, der vom Großvater dann durch eine lange Geschichte entschädigt, eigentlich getröstet wird.

Die Menschen gehen bei Stifter sorgsam miteinander um, behutsam, um nur ja niemanden zu verletzen.
Die Jagdgesellschaft im "Beschriebenen Tännling" ist in ein weißes Gazenetz gehüllt, also selber gefangen in Konventionen und Ehrenkodices.
Sie sitzt an langen Tischen und isst und trinkt, Kinder sind davon ausgeschlossen, um sie nicht mit der Brutalität des Tötens zu konfrontieren ...

Wie schwierig die Partnerfindung ist, und wie empfindlich und empfindsam menschliche Seelenhaltung ist, wird in der Ehetragödie "Der Waldgänger" deutlich. "Und der nahezu vierzigjährige Mann weinte die ganze Nacht". Grund für die Ehescheidung war die Kinderlosigkeit des Paares.
Im "Waldsteig" wird ein eingefleischter Junggeselle (Tiberius Kneigt) durch ein frisches Naturkind von seinen eingebildeten Leiden und seiner Weiberfeindlichkeit geheilt.
Der "Hagestolz" wird erst durch eine enttäuschte Liebe zum Sonderling.

Aber auch als Künstler ist Stifter nach seinem Sanften Gesetz stets behutsamer Führer durch die Schönheiten der Natur und des Kosmos.
Im "Nachsommer" wird eine Universalbildung angestrebt und auch erreicht.
Die ethische Grundhaltung Stifters als Pädagoge ist durchaus eine christliche, die sich in Liebe zur Schöpfung sowie in Nächstenliebe oder Gattenliebe manifestiert.
"Das Herz des Menschen wird von tausend Gewalten gezogen, alle müssen sie geprüft und erschöpft sein, bis das edle bei der edelsten bleibt, sonst ist die neue immer die lockendere – und sinnliche Schönheit ist darüber nicht die letzte der zauberischen Göttinen." (Brigitta, Erstfassung Seite 213)
In den "Nachkommenschaften" macht sich ein Landschaftsmaler über sich selbst lustig und stellt auch die Landschaftsmalerei als solche in Frage; er heilt sich selbst durch die aufkeimende Liebe zu einem jungen Mädchen, ein seltenes Beispiel von Autosuggestion und deren Wirksamkeit.
Gegen die menschenverachtende Hybris eines Nestroys in seiner Groteske "Die bösen Buben in der Schule" hebt der Menschfreund Stifter seine in beruhigender dunkelumrandender Beschwörerprosa dahinplätschernde beschwichtigende Stimme.

Viele Stellen bei Stifter erinnern in ihrer lapidaren Einfachheit an die Bibelprosa, wie diese sind seine Sätze symbolträchtig und verschlüsselt, oft rätselhaft und interessant, ohne schwulstig und überladen zu sein.
Die Gefahr einer Überladung ist lediglich im "Witiko" gegeben, den Stifter aber, um Mißverständnissen vorzubeugen, ein Epos nennt.
In der "Mappe meines Urgroßvaters" wird die tragische Liebe, eingebettet in ein großartiges Naturschauspiel (Eisbruch), Ursache für eine Beruhigung der Sinne in seinem Nachfahren, der die Aufzeichnungen findet und liest.

Stifter ist nie schulmeisterlich, nie kleinkariert, denn eine über alles hindurchpulsierende Rhythmik, die bedeutungsvoll und sehr ernst ist, verhindert eine weinerliche oberflächliche Grundtendenz.

Bei Stifter hat zwar auch das Kleine Platz, wie es im Abdias in der Kette von Ursachen und Wirkungen deutlich wird, der catena aurea, einem wichtigen Topos in der Barockzeit, aber dieses ist eingewebt in ein größeres Ganzes zu einer wunderbaren Ornamentik im Teppich "Leben".
Jähzorn führt zu unüberlegten Handlungen und wird bestraft, d. h. bestraft sich selbst wie im "Beschriebenen Tännling".
Geschwisterliebe analog der biblischen Maria- und Marthageschichte findet sich wunderbar verwirklicht in "Zwei Schwestern", wo die Künstlerseele einer Geigerin in der glühend und ekstatisch ausgerichteten Schwester ihren Widerpart und zugleich ihre Ergänzung findet.

Stifter ist stets auf der Suche nach der "Innerlichkeit eines Menschen", wie im Aufsatz "Über Stand und Würde eines Schriftstellers" offenbar wird.
Er selbst hat stürmische und ungestüme Jugendjahre durchlebt und durchlitten.

Verglichen mit den Urfassungen dehnt sich der Raum, in den Stifter seine Gestalten stellt, ins Weite, die Personen sind ähnlich wie auf den Gemälden Caspar David Friedrichs stille Beobachter der gewaltigen Natur.

Das ist vielleicht "biedermeierlich" im guten Sinne bei Stifter, dessen Glut nur mit Mühe unter einem etwas konstruierten Ordnungsbegriff, dem er sich selbst nur ungern unterwirft, zurückgehalten wird.

Heute sieht man die Erstfassungen als die unmittelbareren und elementaren Kunstwerke, verglichen mit den Fassungen "Studien" in den "Bunten Steinen". Stifter ist also auch an sich selbst ein Seelenarzt, indem er die Folgen ungezügelter Leidenschaft zu bedenken gibt.

Stifter verarbeitet auch altes Sagengut, Legenden, wie das Votivbild im "Beschriebenen Tännling", Wahrträume, Phantasien in seinen Erzählungen, weil er weiß, daß die Menschen hinter der Realität stets Unheimliches, Rätselhaftes und Unerklärliches aufspüren wollen, er weiß auch, was vor allem einfache Menschen wollen und anspricht, nämlich Geschichten, Märchen, die "gut" ausgehen, enden, Liebesgeschichten, spannende Abenteuer, – um diesen Anforderungen gerecht zu werden, wird Stifter ein ganz großer Erzähler, obgleich es mitunter scheint, als würde er stellenweise mit sich selbst sprechen.

Es ist ein leises Sprechen in eine Leere, die er mit Erzählinhalten nicht zu füllen vermag, – angesichts der Unendlichkeit wird selbst dieses Erzählen unhörbar und sinkt zu einem Flüstern herab.

Stifter mag die Vergeblichkeit menschlichen Strebens an sich selbst gespürt haben, ein Gefühl, das ihn letztlich in den Selbstmord getrieben hat und völlig unpädagogisch ist, aber angesichts der Schmerzen und des persönlichen Unglücks seiner schlechten und bedrückenden Ehe verständlich erscheint.
Voll Trost und Zuversicht erscheint dann der Sternenhimmel, in den die verirrten Kinder in "Bergkristall" sprachlos vor Staunen schauen, damit ganz der These Schillers folgend "Das moralische Gesetz in mir und der Sternenhimmel über mir".
Der Vergleich dieser beiden Textstellen zeigt die künstlerische Überlegenheit sowie die Betroffenheit Stifters angesichts der Unendlichkeit.

Als Physiker ahnt er zugleich mehr von den Sternen als der moralisierende Schiller und die Stellung des Menschen im Kosmos, während die Klassik in Schiller und Goethe den Menschen als Maß aller Dinge ansehen und so eine ganz anderer "Heldenbegriff " entsteht.
Bei Stifter sind die Helden "Antihelden", verhalten, ruhig, überlegen nur durch ihre innere Ruhe, durch protestloses Einfügen in die Kette von Ursachen und Wirkungen.
Es gibt aber auch analog zu Naturkatastrophen Katastrohpen der menschlichen Seele, und Stifters Stille bezwingen auch diese und erweisen sich dadurch in ihrer ganzen Seelenschönheit und Größe.
Da Stifter den Erzieher über den Lehrer stellt, ist sein Ausspruch bemerkenswert: "Für einen Lehrer muss man bloß etwas wissen, für einen Erzieher muss man etwas sein."

Autorin: Brigitte Lachinger


EuroJournal Mühlviertel – Böhmerwald 4/1998Artikel aus EuroJournal,
Mühlviertel – Böhmerwald (Heft 4/1998)
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